Gar kein bis negatives Wachstum bei gleichzeitig viel zu hoher Inflation: Das Stagflationsumfeld hält die Finanzmärkte nach wie vor in Atem und das vierte Quartal 2022 dürfte das Jahresfazit kaum verbessern, befürchtet Felix Herrmann, Chefvolkswirt bei ARAMEA Asset Management. Der Makroexperte, der zugleich auch Portfoliomanager ist, hält derzeit weiterhin eine eher defensive Portfolioausrichtung für ratsam.
Investoren sind gerade dabei, sich einen Reim aus der aktuellen konjunkturellen Lage und vor allem deren Ernst zu machen. Neben der Klärung dieser eher kurzfristigen Frage befinden sie sich zudem weiter in dem Prozess, sich an eine gänzlich neue Investmentwelt anzupassen: Eine Welt, die unter anderem durch weniger Zentralbankunterstützung, mehr (Makro-)Volatilität und womöglich geringere Erträge aus Risikoanlagen charakterisiert sein dürfte. Wichtig wird sein, bei der Analyse der kurzen Frist nicht die großen tektonischen Plattenverschiebungen außer Acht zu lassen, die sich eher im Hintergrund abspielen.
Sinkende Wirtschaftsleistung in Europa
Derzeit treibt Anleger nicht mehr um, ob es im Winterhalbjahr eine Rezession in der Eurozone geben wird – sondern nur noch, wie stark sie ausfällt. Prognosen diesbezüglich bleiben herausfordernd, da vieles von der Härte des Winters, der daraus resultierenden Entwicklung der Energiepreise sowie der Politikreaktion auf eben jene Energiepreisentwicklung abhängt.
In Europa erleben wir derzeit eine Lebenshaltungskostenkrise, in der hohe Energie- und Nahrungsmittelpreise in erheblichem Maße die Kaufkraft der Menschen mindern. Wir rechnen in der Eurozone im Quartalsvergleich mit Wachstumsraten in Höhe von maximal -0,3 Prozent im vierten Quartal 2022 und dem ersten Quartal 2023. Das Risiko ist klar abwärtsgerichtet.
Die Inflation dürfte ihren Höhepunkt derweil noch nicht überschritten haben. Im Gegenteil: Für das vierte Quartal 2022 sind zweistellige Inflationsraten mittlerweile das Basisszenario vieler Analysten. Problematisch ist dabei vor allem der Anstieg der Kerninflationsrate sowie die darunterliegende Verbreiterung des Inflationstrends. Mindestens ebenso wichtig wie die Frage, wo das Hoch der Inflationsrate liegen wird, ist jedoch, wie nachhaltig die hohen Inflationsraten sind. Aus unserer Sicht ist in der Eurozone erst gegen Jahresende mit dem Inflationshoch zu rechnen. Der Rückgang der Teuerungsrate auf ein aus Zentralbanksicht erträgliches Niveau dürfte sich aufgrund zunehmender Dienstleistungsinflation länger hinziehen.
In den USA könnte das Inflationshoch früher erreicht sein
In den Vereinigten Staaten ist die Situation etwas anders. Hier rechnen wir bereits im vierten Quartal mit einem leichten Rückgang der Inflation und somit auch mit einer Inflationsdivergenz zu Europa. Diese dürfte eines der wichtigen Investmentthemen im Herbst und Winter werden. Gleichzeitig sind auch die US-Wachstumsaussichten etwas weniger trübe als in Europa, was zuvorderst mit einer weniger drängenden Energiekrise zusammenhängt. Während der Bloomberg-Konsensus die Rezessionswahrscheinlichkeit für Deutschland in den kommenden 12 Monaten aktuell auf 78 Prozent taxiert, liegt sie für die USA bei 50 Prozent. Eine sanfte Landung der US-Wirtschaft scheint möglich.
Unter dem Strich scheint eine eher defensive Ausrichtung der Portfolien weiter das Gebot der Stunde zu sein. Besserung ist erst dann in Sicht, wenn die Inflation nachweislich und deutlich sinkt und die Zentralbanken einen Kursschwenk vollführen. Die nachfolgende Erholungshausse könnte sich angesichts der hohen Cashquoten vieler Anleger jedoch schnell und kraftvoll vollziehen.