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Barrierefreiheit oder doch besser gleich „Design for all“

Barrierefreiheit dient allen. Kostet - aber ermöglicht nachhaltiges Wohnen.
Michael Neubauer

Barrierefreiheit dient allen. Kostet - aber ermöglicht nachhaltiges Wohnen.

Aus planerischer Sicht wird das Thema Barrierefreiheit durch die Fülle an Gesetzen und Auflagen immer komplexer. „Durch die steigenden Auflagen und natürlich auch durch die Verknappung am Markt wird der Preis für Wohnraum in die Höhe getrieben“, gibt Josef Jakob, ÖRAG Immobilien, zu bedenken. Dabei ist Barrierefreiheit bei Neubauten mit den Vorgaben der ÖNORM B1600 und der OIB-Richtlinge noch relativ einfach umzusetzen. Im Bestand schaut die Sache gleich ganz anders aus. „Im Bestand sind deutlich mehr Hindernisse zu überwinden“, so der Architekt. Hier komme es auf eine exakte Planung an, damit das Ganze auch noch wirtschaftlich zumutbar bleibt.

Ist die Tendenz „Im Neubau kleiner und kompakter“ ein Widerspruch zu Barrierefreiheit? Auf keinen Fall, denn „Barrierefreiheit bedeutet nicht ausschließlich rollstuhlgerecht“, weist Helga Bachleitner von der Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs auf die unterschiedlichsten Behinderungen hin. „Barrierefreiheit bedeutet viel mehr. Sehbehinderte Menschen brauchen keine breiteren Türen, dafür jedoch kontrastreiche Gestaltung oder ertastbare Elemente.“ Durch die Überalterung der Gesellschaft steigt auch die Anzahl der Augenerkrankungen. Man spricht von 318.000 Menschen mit hochgradiger Sehbehinderung und 4.000 bis 5.000 Blinden. „Die Dunkelziffer ist weit höher“, gibt Bachleitner zu bedenken.

„Barrierefreies Bauen kommt allen – wenn auch vorrangig älteren – Menschen zu Gute“, meint Michael Herbeck, BUWOG AG. „Neben Menschen, die auf ihren Rollstuhl angewiesen sind, gibt es auch jene, die nach einem Unfall temporär gehandicapt sind, oder Eltern, die ihre Kinder auf dem Arm tragen. Wenn man all diese zusammenzählt, brauchen knapp 50 Prozent der Bevölkerung eine Barrierefreiheit im mehr oder weniger ausgeprägten Sinn.“ Stellt sich die Frage, wie man das leistbar machen will.

RoundTable ?Nachhaltiges Wohnen? _ Kone _ März 2016 _ 003 © cityfoto

Die Konsumenten selbst haben die Entscheidung schon längst getroffen. Sowohl bei Raiffeisen evolution als auch bei der BUWOG ist der Trend bemerkbar, dass nicht mehr allein die Lage den Ausschlag gibt. „Man will in den eigenen vier Wänden bleiben, auch wenn man älter wird.“ Die Wohnung muss mitleben, sie muss adaptierbar sein, ist sich die Runde einig. „Ich muss die Wohnung nicht von Haus aus sofort behindertengerecht einrichten, sondern ich muss sie soweit planen - und bei der Planung liegt der Fokus - dass sie adaptierbar ist“, bringt es Bernhard Weixelbraun, Raiffeisen evolution, auf den Punkt. Laut Rückmeldungen von Eigentümern wird zunehmend darauf geachtet, in wieweit es möglich ist, im Falle einer Behinderung einfache Änderungen im Wohnraum zu realisieren. „Dies gilt nicht nur für Wohnungen, sondern auch für private Einfamilienhäuser.“

Aber kann man Barrierefreiheit überhaupt für jeden bieten? Bachleitner hat gleich ein Beispiel parat: „Rollstuhlfahrer versus Blinder und Gehsteigkanten – das ist ein Klassiker: Der Rollstuhlfahrer möchte alles auf einer Ebene und der Blinde braucht eine Kante um feststellen zu können, dass er den Gehsteig verlässt. Da hilft nur eines: der Kompromiss!“ Auch wenn dieser unter Umständen etwas mehr kostet.

Dabei sei es kein Geheimnis, dass behindertengerechtes Bauen zu Kosten führt. Es gibt jedoch viele Möglichkeiten, durch Kleinigkeiten diese Anpassungsfähigkeit zu schaffen. „Barrierefreiheit muss – gut geplant - nicht zu Lasten der Nutzfläche gehen“, betont Jakob. Bei einem Neubau ist das Planen relativ einfach. Es muss darauf geachtet werden, dass in einem vernünftigen Rahmen umgebaut werden kann, denn die Bedürfnisse sind individuell. Mühsamer ist der Altbau. Abweichungen sind zwar unter bestimmten Umständen erlaubt, die Behörden fordern jedoch vor der Bewilligung eine exakte Kostenermittlung. „Ein Aufwand, der einem nicht bezahlt wird“, so Jakob. Am besten und wirtschaftlichsten sei es, sich auf die essenziellen Dinge der Barrierefreiheit zu konzentrieren. Dinge, die wirklich notwendig sind. „Viele Normen lassen ihre Sinnhaftigkeit vermissen. Am Ende muss ein Optimum für den Endnutzer und den Eigentümer des Objektes gegeben sein.“

Eines dürfe man nicht vergessen, wendet Weixelbraun ein. „Die wirklichen Kosten finden sich in den Außenbereichen, wo Geographie und die Definition der Baufläche eine Rolle spielen. Da kann es passieren, dass ein Projekt nicht mehr leistbar ist, weil zu viel in die Außenanlage investiert werden muss. „Da kommt es schon mal vor, dass ein Projekt stirbt, wenn man behindertengerecht agieren will.“

„Wenn das Thema Barrierefreiheit im Wohnbereich wirklich umgesetzt wird, kann es dann nicht sein, dass Wohnungen, die die Kriterien nicht erfüllen, auch weniger wert sind? Kann man einen Teil der Aufwendungen auch durch die Mieten wieder hereinspielen?“, wirft Gernot Schöbitz, Geschäftsführer KONE Österreich, eine Frage in die Runde. Die einheitlich mit einem „Noch nicht“ beantwortet wird. „Es ist aber wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit.“

„Aus meiner Sicht beginnt Barrierefreiheit viel früher. Sie beginnt bereits beim Betreten eines Gebäudes. Ein Garagentor und Türen, die sich automatisch öffnen, den Benutzer erkennen und diese Information an einen smarten Aufzug weiterleiten, der dann schon da ist, wenn ich zu den Aufzügen komme. Aber die Frage ist dennoch, wie man das kostengünstig machen kann.“

RoundTable ?Nachhaltiges Wohnen? _ Kone _ März 2016 _ 062 © cityfoto

„Wenn man in die Innenhöfe hineinschaut, einen Aufzug kann man überall hinbauen. Aber wie komme ich mit dem Rollstuhl überhaupt zum Aufzug? Ich denke, das ist eine gesellschaftliche Herausforderung – und nach wie vor ein Problem“, wirft Schöbitz ein. Dass beim Erreichen der Barrierefreiheit technischen Lösungen eine Schlüsselrolle zukommen wird, da ist sich Schöbitz sicher: „Ohne entsprechende technische, smarte Lösungen kann man manche Dinge nicht erreichen.“ Ziel dabei aber sei, den User, den Wohnungsbewohner, nicht zu überfordern. „Auf die Gesamtlösung kommt es an, sich wirklich auf das zu konzentrieren, was wirtschaftlich sinnvoll und technisch notwendig ist.“

Stellt sich für die Runde die Frage: „Sollte man gar nicht mehr von Barrierefreiheit sprechen, sondern von einem anderen, nachhaltigeren Wohnkonzept?“ – Für Weixelbraun vor allem eine finanzielle Frage: „Ich bezweifle, dass junge Menschen an barrierefreies Wohnen denken. Mitte der Zwanziger wird sich das kaum jemand leisten können. Mit steigendem Alter denkt man schon mehr an barrierefreies Wohnen – da hat man aber auch die finanziellen Mittel dafür.“

Im internationalen Vergleich kann sich Österreich durchaus blicken lassen. Dennoch gibt es Länder, in denen Barrierefreiheit umfassender gedacht wird. „Serbien ist uns bei diesem Thema weit voraus“, weiß Weixelbraun zu berichten. Der Krieg habe nicht nur an den Gebäuden Schäden hinterlassen. „Es gibt viele Kriegsversehrte. Kaum eine Familie, die nicht betroffen wäre. Da sieht und erkennt man die Probleme, die mit einer Behinderung einhergehen viel schneller.“

Was also ist zu tun? Für Jakob steht das Normen-Entrümpeln an erster Stelle einer To-do-Liste. „Man muss auch einmal den Mut haben, Normen außer Kraft zu setzen, wenn sie keinen Sinn mehr haben.“ Sein Wunsch in Gottes Ohr.