Wer glaubt, man könne die Inflation zügeln, ohne viel Schaden anzurichten, macht sich angesichts der sie erneut befeuernden strukturellen Kräfte zweifellos etwas vor. In Anbetracht dieses neuen Umfelds, das sich gegen unseren Willen etabliert, sollten drei wichtige Faktoren genau betrachtet werden: höhere Reallöhne, die Reindustrialisierung zur Reduzierung der energetischen und industriellen Abhängigkeiten sowie die angestrebte Vereinbarkeit von Wirtschaftsethik und -effizienz.
I. Verluste begrenzen
In den USA sind die Löhne um durchschnittlich 6% gestiegen, während die lokale Inflation nach einem Anstieg auf 8,5% zurückgehen dürfte.
In Europa hingegen sind die Löhne lediglich um 1,5% gewachsen, während die Teuerung auf nahezu 7,5% gestiegen ist.
Wenn die Regierungen keine wirksamen Schritte einleiten, um die Lücke zwischen dem Einkommen der Haushalte und der Inflation wenigstens teilweise zu schließen, besteht das Risiko, dass die Menschen in Europa auf die Straße gehen.
Diesem Problem sollten die Regierungen rasch vorgreifen und ihren auf Preisstabilität ausgerichteten wirtschaftlichen Ansatz der letzten Dekaden anpassen. Tatenlosigkeit würde uns einer tiefen Rezession aussetzen, die höchstwahrscheinlich zu keiner dauerhaften Stabilisierung der Preise führen und die Schulden weiter anwachsen lassen würde. In diesem Fall wären aller schlechten Dinge drei!
II. Reindustrialisierung Europas
Europa muss sich mit seinen industriellen, militärischen und energiebezogenen Abhängigkeiten auseinandersetzen, die durch die Corona-Pandemie und den Ukraine-Krieg auf schonungslose Weise aufgedeckt wurden. Die daraus resultierende Notwendigkeit der Rückverlagerung ist für die betroffenen europäischen Länder eine Chance zur Reindustrialisierung. Frankreich beispielsweise ist hierbei ein vielversprechender Kandidat, zumal das Land aufgrund seines Bezugs zu atomarer Energie über einen großen Wettbewerbsvorteil verfügt – insbesondere, wenn die entsprechenden Anlagen ausgebaut und modernisiert werden. Kein Land kann für sich beanspruchen, eine Industrienation zu werden oder zu bleiben, wenn es keine Kontrolle über seine Energieversorgung hat.
Die Industrie wartet aufgrund der erforderlichen Qualifikationen und der steigenden Produktivität mit gut bezahlten Arbeitsplätzen auf. Das inflationäre Umfeld rechtfertigt mehr denn je erhebliche Anstrengungen zur Produktivitätssteigerung, wie sie eine moderne Industrie leistet. Die Reindustrialisierung könnte einen Anlass für die Haushalte bieten, ihre Ersparnisse in Vermögenswerte umzuwandeln, deren Zinsen sich an Staatsanleihen orientieren, da diese selbst in Zeiten der Inflation Gewinne erzielen können.
Eine verstärkte Beteiligung der Arbeitnehmer am Ergebnis ihres Unternehmens unter Einhaltung von Regelungen, die ein Minimum an Anreizen und Schutz miteinander verbinden, wäre eine gute, ergänzende Maßnahme, um die Einkommen an die Inflation zu koppeln. Erst kürzlich haben verschiedene große Unternehmen neue Programme zur Förderung der Mitarbeiterbeteiligung angekündigt.
III. Moral und Effizienz
Der dritte Faktor stellt eine Ergänzung der beiden ersten Säulen dar: der Wunsch nach der bestmöglichen Vereinbarkeit von Moral und notwendiger Effizienz. Voraussetzung dafür ist ein Wirtschaftsverständnis, das auch die Erkenntnis einschließt, dass man den Wunsch nach einer moralischeren Wirtschaft nicht lange vom Wirklichkeitsprinzip abspalten kann.
Wenn sich die ‚folgenreichsten‘ politischen Entscheidungen wieder am Wirklichkeitsprinzip orientieren, könnte das aktuelle Umfeld mit etwas Fantasie und Kühnheit der Beginn einer Phase sein, in welcher der Wohlstand breiter geteilt wird. Der vor uns liegende Zeitraum weist vielleicht wirklich einige Ähnlichkeiten mit den Jahren des Wirtschaftswunders zwischen 1945 und 1975 auf, die in Frankreich auch als ‚Les Trente Glorieuses‘ bekannt sind: ein tendenziell inflationäres Umfeld, Wiederaufbau durch Reindustrialisierung und Unterstützung der Mittelschicht, wodurch eine positive Wirtschaftsdynamik gefördert wird
Die Rückkehr der Inflation hat tiefgreifende Folgen für die Vermögensverwaltung. Dieser Rückgang könnte zudem nach einer Pause von zwölf Jahren die Rückkehr zu einer Wirtschaft einläuten, die durch Zyklen mit variierender Performance der Finanzanlagen geprägt ist (Aktien oder Anleihen, zyklische oder Growth-Titel, Unternehmens- oder Staatsanleihen, Dollar oder Gold). Der aktive Anlageprozess, der sich dadurch auszeichnet, die Wendepunkte der Konjunkturzyklen rasch zu erkennen, wird in dieser bevorstehenden Phase des Wandels wieder an Bedeutung gewinnen.“