Die deutsche Regierung habe zwar richtigerweise die Flüssiggas-Infrastruktur ausgebaut. "Aber Sie brauchen Gas", fügte der IEA-Chef warnend hinzu - und es könne sein, dass die LNG-Terminals gar nicht gefüllt werden könnten. Denn 2023 sei die Summe des neuen LNG-Gases, das zusätzlich auf den Markt komme, mit 23 Milliarden Kubikmetern im Vergleich sehr gering. "Und China kommt zurück als einer der großen LNG-Importeure", sagte er in Anspielung auf die schwache chinesische Wirtschaft im vergangenen Jahr.
Selbst bei einem kleinen Anstieg des Wirtschaftswachstums würde China 80 Prozent des zusätzlichen Gases aufsaugen. "Auch wenn die Europäer Terminals haben, können sie vielleicht nicht genug Gas für Importe haben. Deshalb wird es im kommenden Winter nicht einfach für Europa." Hintergrund ist auch, dass es Zeit braucht, um weltweit neue Gasfelder zu erschließen. Die deutsche Regierung ist zwar mittlerweile bereit, dass auch fossile Ressourcen vorübergehend wieder gefördert werden. Aber mit einem starken Anstieg der Gasförderung, die dann russisches Gas ersetzen könnte, wird erst in einigen Jahren gerechnet.
Der IEA-Chef glaubt, dass die europäischen Regierungen viele gute Entscheidung getroffen hätten, aber eben auch Glück hatten. Es habe einen außergewöhnlich milden Winter gegeben, so dass der Gasverbrauch deutlich geringer ausfiel, betont Birol. Und die wirtschaftliche Schwäche Chinas habe dort den Gasverbrauch zum ersten Mal seit 40 Jahren gesenkt. Beide Faktoren könnten sich kommenden Winter ändern. Selbst ein kleiner Anstieg des Wirtschaftswachstums würde dazu führen, dass China 80 Prozent des zusätzlich verfügbaren Gases aufnehme. "Es wird also weniger Gas für Europa übrig bleiben für den nächsten Winter", warnt Birol. Dazu komme die Möglichkeit, dass Russland die noch vorhandenen Gaslieferungen nach Europa ganz einstellt.
Der IAE-Chef hält es gleichzeitig für möglich, dass die zuletzt deutlich gesunkenen Gaspreise wieder nach oben gehen, wenn China als großer LNG-Importeur verstärkt auf den Markt kommt. "Ich denke, dass sich China einen Großteil des neuen Gases durch Verträge gesichert hat", nannte er als Erklärung. Europa müsse dagegen sehr hohe Preise zahlen, um sich dennoch mit Gas versorgen zu können. Als Konsequenz müssten alle deshalb Gas sparen, auch die Industrie. Der Ausbau der Erneuerbaren Energie müsse beschleunigt und es müssten mehr Wärmepumpen in Häusern eingesetzt werden.
Der IEA-Chef sagte zudem ein starkes Comeback der Atomenergie voraus. "Die Länder, die sich in den vergangenen Jahren von der Atomkraft verabschieden wollten, sollten schauen, ob dies die beste Zeit ist, das zu tun", sagte Birol in einem am Samstag veröffentlichten Interview mit Reuters-TV. "Atomenergie wird Teil des Energiemixes sein." Innerhalb der EU setzen derzeit 14 der 27 EU-Staaten auf Atomkraft.
Atomenergie erlebe ein starkes Comeback in der ganzen Welt, von Japan, Südkorea über die USA und Schweden, sagte Birol. In Europa setzten etwa Länder wie Belgien auf die Laufzeitverlängerung ihrer Atommeiler. Hintergrund sei für die Regierungen vor allem die Sorge um die Versorgungssicherheit.
Österreich steht mit seiner kategorischen Ablehnung der Atomkraft recht einsam da. Daher setzt die Regierung in erster Linie auf juristische Schritte. Im Oktober reichte die Österreich beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) Klage gegen die Pläne der EU-Kommission, Atomenergie als nachhaltig einzustufen, ein. Der österreichischen Klage hat sich bisher nur Luxemburg angeschlossen. Die Mehrheit der EU-Staaten unterstützt die sogenannte Taxonomie-Verordnung, durch die in Zukunft Finanzinvestitionen in Gas und Atom als klimafreundlich gelten. Das soll dabei helfen, die für die Klimawende benötigten Milliarden zu mobilisieren und den Weg der EU zur Klimaneutralität bis zum Jahr 2050 zu ebnen.
Im Regierungsprogramm hat sich die türkis-grüne Bundesregierung 2020 außerdem dem Kampf gegen den "Neu- und Ausbau von Kernkraftwerken in Europa, insbesondere in den Nachbarländern, mit allen zur Verfügung stehenden politischen und rechtlichen Mitteln" verschrieben.