Sie sind bereits seit einiger Zeit in der Immobilienbranche tätig. Welche beruflichen Stationen haben Sie besonders geprägt?
Paul Grassel: In meiner derzeitigen Funktion bin ich seit knapp vier Jahren Geschäftsführer der IG Immobilien. Davor war ich viele Jahre bei unserem Eigentümer, der Oesterreichischen Nationalbank, tätig – zunächst in der Bankenaufsicht, später als Leiter des Controllings. In beiden Funktionen hatte ich mit Immobilienportfolios und deren Restrukturierung zu tun. Diese Schnittstelle zur Immobilienwirtschaft war auch mitentscheidend für meinen Wechsel in die Branche. Als sich schließlich die Gelegenheit zur Geschäftsführung ergab, war das für mich ein klarer Karriereschritt – auch weil ich eine große Leidenschaft für Immobilien mitbringe.
War der Sprung zur Geschäftsführung ein Wagnis?
Ein Sprung war es definitiv, aber kein unüberlegter. Die Verantwortung ist groß, der Gestaltungsspielraum allerdings ebenso. Natürlich ist die Position auch mit einem gewissen Stress verbunden – aber das gehört dazu. Letztlich überwiegen für mich die Gestaltungsmöglichkeiten und die Chance, etwas zu bewegen.
Ein zentrales Thema der Branche ist die Digitalisierung. Wo sehen Sie aktuell den Stand – insbesondere im Hinblick auf wirklich disruptive Entwicklungen?
Viele digitale Projekte wirken auf den ersten Blick innovativ, bilden jedoch lediglich bestehende analoge Prozesse digital ab – und ein ineffizienter Prozess bleibt ineffizient, auch wenn er digitalisiert wird. In der Immobilienbranche existieren bereits zahlreiche hochentwickelte Einzellösungen, teilweise auch mit KI-Unterstützung. Was allerdings fehlt, ist eine durchgängige, integrierte Datenbasis. So könnten wir beispielsweise bereits KI-gestützte Exposés erstellen – stoßen dabei jedoch auf Grenzen, wenn relevante Daten noch nicht systemübergreifend verfügbar sind. Eine einheitliche Datenbasis ist daher ein entscheidender nächster Schritt.
Könnte Künstliche Intelligenz in Zukunft etwa den Maklerberuf ablösen?
Nein, das glaube ich nicht. Die Immobilienvermittlung ist ein höchstpersönliches Geschäft, das stark auf Vertrauen, zwischenmenschliche Kommunikation und emotionale Faktoren aufbaut. KI kann viele Prozesse erleichtern – aber nicht das Gefühl ersetzen, das Menschen beim Besichtigen einer Immobilie haben. Auch virtuelle Rundgänge können das physische Erleben nicht vollständig ersetzen.
Wie stehen Sie zu KI-basierten Bewertungen?
Ich würde eine solche Bewertung auf jeden Fall prüfen – ebenso wie jede andere. Umgekehrt halte ich KI sehr wohl für hilfreich bei der Plausibilisierung oder Validierung bestehender Bewertungen. In Bereichen mit hohem Routineanteil kann sie tatsächlich sehr gut unterstützen. Bei der tatsächlichen Bewertung, die auch Erfahrungswerte und Marktgespür erfordert, bleibt der Mensch aus meiner Sicht unersetzlich.
Welche digitalen Instrumente setzen Sie aktuell konkret ein?
Wir arbeiten unter anderem mit digitalen Zwillingen und BIM-Modellen. Unsere Vermessungsgeräte erfassen etwa automatisch Wohnungsgrundrisse und übertragen die Daten direkt ins System. Für Exposés setzen wir derzeit keine KI ein – dafür ist unser Anteil an Wohnimmobilien schlicht zu gering.
Wie setzt sich Ihr Portfolio aktuell prozentual zusammen?
Der größte Anteil entfällt mit rund 40 % auf Büroimmobilien, gefolgt von Retailflächen mit etwa 25 %. Wohnimmobilien machen rund 15 % aus, der Rest verteilt sich auf Hotelimmobilien und Logistik- und Gewerbeobjekte. Diese Assetklassen werden wir in Zukunft ausbauen.
Gibt es eine Assetklasse, die Ihnen derzeit besonders Freude bereitet – oder eine, die derzeit herausfordernd ist?
Wohnen ist aktuell sicherlich die herausforderndste Assetklasse, insbesondere aufgrund der zunehmenden Regulatorik und des Mietpreisdeckels. Die Assetklasse macht jedoch nur einen überschaubaren Anteil unseren Portfolios aus, weshalb wir weniger von den Herausforderungen betroffen sind.
Am meisten Freude bereitet uns derzeit der Bereich Logistik und Light Industrial. Wir entwickeln aktuell mit dem Projekt „Greenity Gate“ in Guntramsdorf ein innovatives Objekt, das neue Maßstäbe in Sachen Nachhaltigkeit setzt – etwa durch Photovoltaik mit hoher Speicherkapazität, Geothermie, Lehmbautechnologie oder Ökobeton. Schon in der Planungsphase erhielt es das DGNB-Vorzertifikat in Platin, das den derzeit höchsten Nachhaltigkeits-Standard darstellt. Das etwa 35.000 m² große bestehende Areal in der Industriestraße in Guntramsdorf (NÖ) wird unter Berücksichtigung modernster ökologischer Standards nachhaltig generalsaniert.
Wie wirkt sich dieser Innovationsgrad auf die Baukosten aus?
Wir haben mit dem Projekt zu einem Zeitpunkt begonnen, als viele Auftragnehmer froh über neue Projekte waren. Daher konnten wir gute Konditionen erzielen. Zusätzlich profitieren wir von unserer wirtschaftlichen Stabilität, die uns eine gewisse Verhandlungsstärke verleiht. Mittelfristig zahlt sich das aus – etwa durch höhere Werthaltigkeit und geringere Betriebskosten. Zudem erfassen wir alle eingesetzten Materialien im Materialkataster „Madaster“, um deren Rückbau- und Recyclingfähigkeit zu gewährleisten.
Ist Nachhaltigkeit für Sie ein Renditehemmnis?
Ganz im Gegenteil. Nachhaltigkeit erhöht langfristig den Wert und reduziert die Betriebskosten. Wir sehen etwa jetzt schon, dass energieeffiziente Gebäude im Betrieb deutlich besser performen. Unsere Strategie als langfristig orientiertes Unternehmen zahlt sich hier aus.
Verfolgen Sie ein klassisches Bestandsportfolio oder gibt es auch Trading-Aktivitäten?
Unser Fokus liegt klar auf dem Bestand. Verkäufe erfolgen nur in Ausnahmefällen. Bis 2035 wollen wir unser gesamtes Portfolio klimaneutral gestalten. Einige wenige Zinshäuser werden wir mittelfristig veräußern.
Welche Nachhaltigkeitszertifizierungen streben Sie an?
In Österreich arbeiten wir mit ÖGNI und DGNB, international – etwa in Brüssel oder Budapest – mit BREEAM.
Wie bewerten Sie die zunehmende Regulatorik rund um ESG und die EU-Taxonomie?
Die Regulatorik ist zweischneidig. Einerseits ist ein klarer Rahmen notwendig, um nachhaltige Entwicklungen zu fördern. Andererseits besteht die Gefahr, dass der Aufwand für Berichte und Nachweise unverhältnismäßig wird – insbesondere für kleinere Unternehmen. Wichtig wäre, bestehende Standards regelmäßig zu überprüfen und zu vereinfachen, anstatt immer neue Regelungen obenauf zu setzen. Unser Fokus liegt klar auf Maßnahmen mit direktem Effekt – etwa die Optimierung von Heizkurven, die bei uns bereits zu signifikanten Energieeinsparungen geführt hat.
Sind Investitionen außerhalb der Norm – etwa beim Brandschutz – für Sie ein Thema?
Nein. Wir halten uns strikt an bestehende Normen. Experimente außerhalb der Regelwerke sind mit unserer Struktur und Strategie nicht vereinbar.
Wie hoch sind Ihre geplanten Investitionen in den Bestand in den nächsten Jahren?
Genaue Zahlen möchten wir derzeit nicht kommunizieren, aber es handelt sich um ein signifikantes Volumen. Wir haben mehrere große Sanierungs- und Modernisierungsprojekte in Vorbereitung oder bereits am Start, mit entsprechendem Investitionsbedarf.
Haben wir die Talsohle am Immobilienmarkt bereits durchschritten?
Ich bin zuversichtlich. International sehen wir wieder steigende Transaktionen, auch in Österreich nimmt die Aktivität langsam zu. Eine bevorstehende Zinssenkung könnte diesen Trend verstärken. Allerdings bleibt das gesamtwirtschaftliche Umfeld – insbesondere in Österreich – eine Herausforderung. Die Regulatorik im Wohnsegment dämpft zudem Investoreninteresse.
Zwei Dinge sind mir wichtig: Erstens der Fokus auf Nachhaltigkeit – das ist für uns ein langfristiges Investitionsthema, kein Kostenfaktor. Zweitens unser Anspruch als attraktiver Arbeitgeber. Wir haben eine starke Unternehmenskultur aufgebaut, unter anderem mit unserem „Kulturkompass“. Dafür wurden wir bereits mehrfach als Top-KMU-Arbeitgeber ausgezeichnet. Ich bin überzeugt: Eine positive Unternehmenskultur ist ein entscheidender Erfolgsfaktor.
Suchen Sie aktuell Verstärkung?
Ja, insbesondere in der Hausverwaltung und vereinzelt im Bereich Projektmanagement. Die Hausverwaltung ist seit jeher eine besonders anspruchsvolle Rolle – mit viel Kundenkontakt und häufigem Beschwerdemanagement. Dafür braucht es Menschen, die diese Herausforderung bewusst annehmen.
Wenn Sie fünf Jahre in die Zukunft blicken – wo steht die IG dann?
Bis dahin wollen wir den Großteil unserer ESG-Investitionen abgeschlossen und unser Portfolio nahezu CO2-neutral ausgerichtet haben. Dank unserer Eigenkapitalstärke und unserer konservativen Risikostrategie sind wir gut aufgestellt – und sehen uns langfristig erfolgreich am Markt.
Mag. Paul Grassel verantwortet als kaufmännischer Geschäftsführer der IG Immobilien Unternehmensgruppe die Bereiche Immobilienverwaltung, Rechnungswesen & Controlling, Risikomanagement, Vertrieb & Marketing sowie Shopping-Center Management. Davor war er unter anderem in der Unternehmensberatung und in der Oesterreichischen Nationalbank tätig. IG Immobilien zählt als Immobilien-Bestandshalter und Full-Service-Dienstleister mit einem Team von 120 Mitarbeiter zu den führenden Playern der Branche.