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Österreichs Einzelhandel am Wendepunkt

Die Corona-Krise ist nach Einschätzung des Retail-Marktberichts von OTTO Immobilien lediglich ein Brandbeschleuniger für einige längst fällige Entwicklungen des stationären Einzelhandels und hat in einigen Bereichen Schwächen schonungslos aufgezeigt. Aber auch bestehende Trends weiter befeuert.
Amelie Miller
Otto Immobilien Retail-Marktbericht
Otto Immobilien Retail-Marktbericht
© Christian Steinbrenner

Der österreichische, aber auch der globale Einzelhandel, stehen aufgrund der Coronakrise an einem entscheidenden Wendepunkt.

Mit dem jetzt verordneten zweiten Lockdown wird sich die Situation für viele Händler noch einmal deutlich verschlechtern, sodass in naher Zukunft tausende Geschäfte in ganz Österreich schließen könnten, so die Befürchtung der Retail-Experten von OTTO Immobilien in ihrem seit heute vorliegenden aktuellen Marktbericht.

Während des ersten Lockdowns waren in Österreich 10,3 Millionen Quadratmeter Verkaufsfläche und somit etwa 73 Prozent der gesamten Verkaufsfläche still gelegen. Die täglichen Umsatzverluste betrugen während dieser Zeit für den stationären Einzelhandel 140 Millionen Euro brutto und in der Gastronomie 60 Millionen Euro/Tag (Wohnbevölkerung plus Touristen). Vor allem die Branchen Bekleidung, Schuh, Leder und Elektronik sowie die Geschäfte in den Tourismus-Hotspots erlitten massive Verluste, während die Zahlen von Nahversorgen, Baumärkten, dem Sporthandel, Drogerien und handelsnahen Dienstleistern mehr Stabilität aufwiesen und sich als etwas krisenresistenter herauskristallisierten. Für die Bestandsgeber von Shop-Flächen dürfte sich der monatliche Verlust auf etwa 200 Millionen Euro (Miete und Betriebskosten) belaufen.

Wirtschaftliche Folgen auf 2021 verschoben – Handel muss sich neu erfinden

Die Folgen des ersten Lockdowns wurden durch diverse Unterstützungen und Stundungsmaßnahmen lediglich aufgeschoben und werden wahrscheinlich erst im ersten Halbjahr 2021 schlagend werden, so Patrick Homm, Leiter Immobilienvermarktung Gewerbe bei OTTO Immobilien.

Für den zweiten Lockdown, der neben der Gastronomie die Schließung des gesamten Non-Food Handels von 17. November bis 6. Dezember 2020 verordnet, befürchtet der Österreichische Handelsverband einen weiteren Umsatzentfall von 900 Millionen Euro pro Lockdown-Woche.

Fraglich ist laut Homm auch, wie erfolgreich das Weihnachtsgeschäft nach der Wiedereröffnung aufgrund fehlender Touristen sowie der Zurückhaltung der einheimischen Bevölkerung sein werde.

Jetzt sind individuelle Unterstützungsmaßnahmen dringend notwendig, um die betroffenen Branchen und Betreiber liquide zu halten und somit deren Zukunft zu retten, appelliert Homm.

Auch für die Immobilien-Eigentümer ändert sich die Situation auf Basis von COVID-19. Bei Retail-Objekten sei teilweise mit deutlich längeren Vermarktungszeiten zu rechnen, kreative Ansätze und Ideen seien dringend gefragt, um diese auch nachhaltig vermieten zu können.

Die gegenwärtige Krise zeigt zudem deutlich auf, dass Eigentümer von Handelsimmobilien zukünftig solidarisch und gemeinschaftlich agieren müssen, um einerseits renommierte Mieter zu gewinnen und andererseits den aktuellen Mieterbesatz fortwährend nachhaltig halten zu können, so Anthony Crow, Teamleiter Retail bei OTTO Immobilien.

In naher Zukunft wird es außerdem notwendig sein, die Innenstädte und deren Handelszonen neu zu „erfinden“ – dabei müssen vor allem Politik, Vermieter und Mieter gemeinsam an der Weiterentwicklung des Handels arbeiten, betont Anthony Crow.

Distanzhandel – die neue Normalität?

In Zeiten der aktuellen Krise, der eingeforderten „sozialen Distanzierung“ und der neuen Hygienestandards wird sich das klassische Geschäftslokal nach und nach zum Distanzhandel wandeln – hauptsächlich mit Abstand zu den Konsumenten.

Um den vormals klassischen ‚Point of Sale‘ zu revitalisieren, ist es notwendig, unter anderem durchdachte Logistiklösungen anzubieten, die die Verfügbarkeit der Produkte und dadurch alle Annehmlichkeiten für den anspruchsvollen Kunden garantieren - und gleichzeitig durch Erlebnisse und Entertainment die Verweildauer im Shop erhöhen, so Anthony Crow.

Mieten für 'Schaufenster' statt für Verkaufsflächen ?

Die gute Nachricht: Es ist laut OTTO Immobilien bereits jetzt zu beobachten, dass einige Retailer höchst adaptionsfähig sind und mit ideenreichen Lösungen versuchen, die Zukunft ihres stationären Vertriebskanals zu optimieren. Weiters werden künftig hybride Lösungen, also die gänzliche Vermischung aus online und stationär, unumgänglich sein, so die Retail-Experten.

Als Ergebnis dieser Omni-Channel-Welt sehen wir eine Verkleinerung der Verkaufsflächen, Mietpreise für 'Schaufenster' statt für Verkaufsflächen, eine häufigere Einbindung von Gastronomie in Shops, um die Verweildauer /-qualität zu erhöhen, aber auch kreative Pop-up-stores und mobile Verkaufsflächen, berichtet Crow.

Die Corona-Krise ist nach Einschätzung von OTTO Immobilien lediglich ein Brandbeschleuniger für einige längst fällige Entwicklungen des stationären Einzelhandels und hat in einigen Bereichen Schwächen schonungslos aufgezeigt. Aber auch bestehende Trends weiter befeuert:

  • Der Einzelhandel wird sich auf 1 A-Lagen, Kernzonen und die Top-Einkaufsstraßen fokussieren, während B- und C- Lagen unter Druck geraten und eine verstärkte Nahversorgungsrolle einnehmen. Neben Einkaufsstraßen sind auch Shopping Center gefordert, ihren Branchen- und Mietermix aufrecht zu erhalten. Die Betreiber stehen künftig noch mehr vor der Situation, aus Shopping Centern „Life-Style-Hubs“ und somit den Third Place zu kreieren.
  • Nicht nur der klassische Einzelhandel befindet sich im Wandel, sondern auch das allgemeine Arbeits-, Konsum- und Mobilitätsverhalten. Die zunehmende Urbanisierung und der Wunsch nach kurzen Wegen zwischen Wohnen, Arbeiten und Einkaufen führen dazu, dass dem Zeitgeist entsprechende „Mixed-Use-Objekte“ diese verschiedenen Segmente unter einem Dach vereinen werden.

  • Bedingt durch die Corona-Pandemie und den damit einhergehenden rasanten Wandel des stationären Einzelhandels, werden Vermarktungen von Geschäftsflächen in Zukunft komplexer, genauer analysiert und länger dauern.

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit eines fundierten Retail-Consultings für Vermieter und Mieter. Etwa als Begleitung und Aufbereitung von Expansionsstrategien, als Vermietungsmanagement oder Eigentümervertretung, so Patrick Homm.

Investmentmarkt betroffen – Renditen bei Einkaufszentren international stabil

Das im Retailbereich umgesetzte Investmentvolumen lag nach Erhebungen von OTTO Immobilien heuer in den ersten drei Quartalen bei 265 Millionen Euro und somit 31Prozent unter dem Vorjahresniveau. Fast alle Verkäufe fanden in der ersten Jahreshälfte statt und wurden noch vor dem Ausbruch der Pandemie angebahnt, berichtet Christoph Lukaschek, Leiter Investment bei OTTO Immobilien.

Aus Angst vor dem neuerlichen Lockdown und durch die komplett neue Marktsituation droht allerdings eine weitere Welle von Mietverhandlungen, die sich auch stark auf den Investmentmarkt auswirken, so Lukaschek.

Die Renditen für Einkaufszentren und Fachmarktzenten sind in den letzten Monaten um 50 bis 100 Basispunkte gestiegen und mit einer Erholung ist derzeit nicht zu rechnen. Für ein Highstreet Objekt in Wien liegt die maximale Zahlungsbereitschaft der Investoren bei einer Rendite von 4,6 Prozent, wobei diese für Trophy-Objekte in absoluten Spitzenlagen auch noch deutlich darunter liegen kann, erklärt Lukaschek.

Bei den Spitzenrenditen für Einkaufszentren konnte sich Wien hinter einigen deutschen Städten, allen voran Berlin, sowie Paris, Genf und Zürich etablieren. Vor diesem Hintergrund rechnet Lukaschek mittelfristig mit einer Wiederbelebung des Interesses nationaler und vor allem auch internationaler Investoren.

Foto: Christian Steinbrenner