Wien wächst – und da muss die Stadt mit genügend Wohnraum mithalten. Seestadt Aspern und Hauptbahnhof-Areal werden medial dauerabgefeiert. Zurecht natürlich, denn hier wird für tausende in Wien lebende und arbeitende Menschen Lebens-, Wohn- und Arbeitsraum geschaffen. Und Wiens Planungsstadträtin Maria Vassilakou will sich „in den nächsten zehn Jahren keine Sorgen machen“, was genügend Unterbringungsmöglichkeiten für die Hauptstadtbewohner anlangt. Deshalb kündigte sie zu Jahresbeginn die nächsten großen Taten in Sachen Stadtentwicklung an:
Da ist zunächst das Seeparkquartier Aspern, wo auf 37 Hektar etwa 700 Wohnungen entstehen sollen, praktisch gleich daneben das Hausfeld in der Donaustadt, wo gleich 2.900 neue Wohneinheiten auf 26 Hektar errichtet werden. Der zweite Bezirk ist ohnehin der Entwicklungskaiser: Nach dem allseits gelobten Mega-Projekt Viertel Zwei sollen in den nächsten Jahren in der Krieau, am Nordbahnhof und in der Umgebung des Radstadions auf – zusammengezählt – rund 40 Hektar über 5.000 Wohnungen gebaut werden. Auch in den traditionellen Nobelbezirken wie Döbling soll Großes entstehen: Die Muthgasse wird Ausgangspunkt für 1.000 neue Wohnungen (auf ca. 47 Hektar).
Wie schnell diese potenziellen Großbaustellen zu tatsächlichen werden, steht noch in den Sternen. Für das Projekt Krieau beispielsweise ist gerade ein kooperatives städtebauliches Planungsverfahren abgeschlossen. Nun soll ein Architekturwettbewerb folgen.
„Wir würden brachliegende Flächen in Wien nicht als Krisenzone bezeichnen“, meint etwa Martina Paukner, Researcherin bei Otto Immobilien. Im Gegenteil: „Es stellt im Gegenzug aus unserer Sicht eher eine Entwicklungschance für die Stadt und vor allem auch für den Liegenschaftseigentümer dar. In Abhängigkeit davon, wie stark ein Entwicklungsgebiet durch die Bereitstellung einer Infrastruktur – Individualverkehr, aber vor allem öffentliche Anbindung – von der Stadt gefördert wird, entwickeln sich bisher unbebaute Gebiete rascher oder nur sehr verzögert“, erklärt Paukner anhand eines Beispiels: Die rasante Entwicklung der U2-Achse, die 2008 ihren Anfang nahm und natürlich die Entwicklung des Viertel Zwei, die in weiterer Folge auch die Umsetzung von zahlreichen Gewerbe- und Wohnprojekten ermöglichte.
[caption id="attachment_4179" align="aligncenter" width="300"] (c) Pas Po[/caption]Paukner: „Vor dem Ausbau der U-Bahn-Linie U2 anlässlich der Fußballeuropameisterschaft 2008 wäre diese schnelle Entwicklung nicht denkbar gewesen.“ Große bekannte brachliegende Flächen werden momentan verbaut, listet die Otto-Expertin auf, wie beispielsweise die Bahnhofsareale Hauptbahnhof, Nordbahnhof und Nordwestbahnhof. In diesen Gebieten können die ÖBB durch die Parzellierung der Liegenschaften und die Bereitstellung der Infrastruktur als die treibende Kraft für die Entwicklung angesehen werden, so Paukner.
Krisenzonen im eigentlichen Sinne will auch Stefan Wernhart, Leiter Gewerbeimmobilien bei EHL Immobilien, nicht kennen. Aber: „Unbestritten ist natürlich, dass viele Developer in Wien noch ein oder mehrere Projektentwicklungsliegenschaften halten, auf denen derzeit für Außenstehende keine nennenswerten Aktivitäten zu erkennen sind. Es ist aber nicht so, dass für diese Liegenschaften zwangsläufig die Ideen fehlen. Entweder werden bereits geplante Projekte nur bei bauauslösender Vorverwertung realisiert, oder die Projektentwicklung wurde bewusst auf eine spätere Phase verschoben.“ Ein weiterer Grund für brachliegende Liegenschaften sei das Vorhalten von Erweiterungsflächen für bereits etablierte Bürostandorte, erzählt Wernhart: „Auf einer Liegenschaft in der Muthgasse ist noch heuer der Baubeginn eines neuen Projektes geplant. Daher könnte hier – positiv formuliert – von schlummernden Potenzialen gesprochen werden, die zu einem geeigneten und gut evaluierten Zeitpunkt genutzt werden.“
Geschickte Projektentwickler spielen ihre Trümpfe daher nur sehr überlegt aus. „Das ist aus unserer Sicht auch gut so, damit der Wiener Markt auch weiterhin seine Stabilität behält“, so der EHL-Manager.
Immorent-Researcherin Ingrid Gratzer beobachtet die weißen Immobilienflecken bei Liegenschaften von ehemaligen Fabriken, Kasernen oder Bahnhöfen: „Da bietet sich aus städtebaulicher Sicht einiges an Potenzial. In Wien zählen zu solchen Projekten aktuell beispielsweise die Muthgasse, die Kometgründe oder der in Entwicklung befindliche Nordbahnhof.“ Die Herausforderung bestehe darin, bei sehr unterschiedlichen Ansprüchen das Potenzial solcher Liegenschaften zu erheben: Wo macht Wohnbau Sinn, wo könnten Büros entstehen und wo sollten kulturelle oder Freizeiteinrichtungen her?
Gratzer: „Es geht vor allem darum, den Bedarf der Stadt richtig abzudecken, damit aus ‚weißen Flecken‘ nicht ‚weiße Elefanten‘ werden.“ Manchmal, überlegt die Immorent-Expertin, kann es daher von Vorteil sein, wenn solche Liegenschaften nicht in Windeseile umgebaut werden: „Denn nicht alles, was per Widmung erlaubt ist, ist auch wirtschaftlich und städtebaulich sinnvoll.“
Woran liegt es, dass Brach-Lagen zu städtebaulichen Schandflecken mutieren (können)?
Otto Immobilien-Expertin Paukner definiert anhand eines Punktekatalogs die Problematik: „Die Gründe für eine Verzögerung brachliegender Flächen sehen wir im Fehlen eines oder mehrerer Faktoren wie z.B. fehlende Infrastruktur, fehlende Mieter und somit eine nicht erreichte Vorverwertungsquote für die Finanzierung oder auch mangelnde Abstimmung der Stakeholder für einen gemeinsamen Zeitplan der Entwicklung“. Natürlich kann es auch immer wieder vorkommen, dass sich der Bedarf an der geplanten Nutzung nicht (oder nicht im projektierten Ausmaß) ergibt oder dass die langfristige Entwicklung des Standortes nicht passend zur geplanten Nutzung läuft.
Seitens der Nutzer und Projektentwickler besteht auch meist der Wunsch, zuerst Flächen innerhalb bereits bestehender Standorte so weit zu entwickeln, dass diese eine für den Markt funktionierende Dimension erreichen, bevor Objekte in noch nicht entwickelten Lagen errichtet werden, weiß Paukner. Als Beispiel dafür nennt sie die Gasometer, die zur Zeit ihrer Umnutzung zu einem Büro- und Shoppingstandort selbstständig nicht genug Flächen aufweisen konnten, um als eigener Standort auch anerkannt zu sein.
[caption id="attachment_4180" align="alignleft" width="200"] Martina Paukner„Als Objekte wie das OCG, der Adler und die Ameise, das Marximum oder MGC Office hinzukamen, erreichte die Lage schließlich die notwendige Größe, die für einen funktionierenden Bürostandort oftmals notwendig ist.“
An Ideen mangelt es also am Markt nicht, glaubt auch EHL-Manager Wernhart: „Aber in jeder Projektumsetzbarkeit spielt neben einigen anderen entscheidenden Kriterien natürlich auch die Markt-und Standortanalyse eine entscheidende Rolle. Diese hält Projektentscheidungen in der gegenwärtigen Marktsituation oft noch zurück, da sich der Wiener Büroimmobilienmarkt zwar kontinuierlich, aber weiterhin nur langsam erholt.“
Zusätzlich erwarten Banken bei der Projektfinanzierung oft einen hohen Vorverwertungsgrad von z. B. 50 Prozent oder mehr, bestätigt auch Wernhart. Diese Kombination erschwere vielen Developments die kurzfristige Realisierung. Generell sei er jedoch überzeugt, dass in Wien jede brachliegende Liegenschaft einer geeigneten Nutzung zugeführt werden kann: „Der leichte Anstieg der Nachfrage für moderne Büroflächen in der Größenordnung über 4.000 Quadratmeter lässt uns optimistisch in die Zukunft blicken, da diese Mieter hochwertigen Projekten den bauauslösenden Impuls liefern können.“
Auch CA Immo-CEO Bruno Ettenauer weiß um das Wiener Potenzial, das er rund um den Nordbahnhof oder innerstädtisch erkennt. Er ortet bei der Realisierungsgeschwindigkeit vielfältige Gründe: „Von unterschiedlichen Eigentümerstrukturen, der Genehmigung stadtplanerischer Konzepte – Stichwort: Architekturwettbewerbe und Widmungen – bis hin zur Investoren- und Partnersuche gilt es einige Hürden zu bewältigen.“
Das Marktumfeld kann ebenso eine Umsetzung verzögern, wenn z.B. entsprechende Vorvermietungsquoten fehlen oder Finanzierungen schwierig zu bekommen sind. Oder auch Stakeholder-Interessen unter einen Hut zu bringen sind: „Die Erfahrung bei der Realisierung unserer großen Stadtquartiersentwicklungen in Frankfurt, Berlin und München hat gezeigt, dass eine gemischte Nutzung vor allem in innerstädtischen Arealen äußerst wichtig für das Funktionieren eines Quartiers ist.“
Das heißt, so Ettenauer, Leben und Arbeiten, Nahversorgung und soziale Einrichtungen nebeneinander sowie eine bedarfsgerechte Infrastruktur sind Voraussetzung für nachhaltige und erfolgreiche Stadtplanung – und ein für alle Beteiligten gelungenes Projekt.
Geduld und einen langen Atem schreibt S Immo-Vorstand Friedrich Wachernig auf den Rezeptblock für schleppend vorangehende Projekte: „Die vielzitierte oberste Prämisse des Immobiliengeschäfts – Lage, Lage, Lage – unterliegt manchmal Veränderungen. In Wien sind diese Entwicklungen nicht ganz so rasant wie beispielsweise in Berlin, aber auch hier lässt sich beobachten, dass ehemalige Randgebiete an Attraktivität gewinnen.“
Oftmals sind strukturelle Veränderungen dafür verantwortlich, wie zum Beispiel der Ausbau einer U-Bahn-Linie oder die Errichtung von öffentlichen Einrichtungen. Die demografische Entwicklung der Stadt, der ungebrochene Zuzug und die ständig wachsende Bevölkerung legen nahe, dass auch in den nächsten Jahren konstant neue Gebiete erschlossen werden müssen, und damit vermeintlich uninteressante Grundstücke in den Fokus rücken, ist Wachernig überzeugt. Als Investor und Projektentwickler heißt es also, vorausschauend zu planen und manchmal die notwendige Portion Geduld mitzunehmen.
Das Beispiel Viertel Zwei zeige eindrucksvoll, so der S Immo-Vorstand weiter, wie aus einem Gebiet, das noch vor wenigen Jahren als völlig unattraktiv eingestuft wurde, durch einige Veränderungen (U-Bahn-Ausbau, Umsiedelung der Wirtschaftsuniversität), aber auch durch sehr engagierte Projektentwicklung und -planung ein neuer, belebter und beliebter Stadtteil werden kann: „Ich bin überzeugt davon, dass wir rund um den neuen Hauptbahnhof in Zukunft eine ähnliche Entwicklung beobachten werden.“
Raiffeisen evolution-Geschäftsführer Gerald Beck empfiehlt ebenfalls Geduld: „Natürlich gibt es in Wien Gebiete, die sich für eine Projektentwicklung gut eignen, aber bei denen sich seit Jahren nichts tut. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass wir vor fünf Jahren von einer Krise erwischt wurden und dann erstmals nichts oder sehr wenig weiter ging, weil die Developer erst wieder mal Boden unter den Füßen fassen mussten.“
Die Muthgasse hat sich mit dem space2move jedoch gut entwickelt, weiß Beck, nicht nur, weil von seinem Unternehmen auch ein Bürogebäude in den nächsten Jahren hinzukommen wird: „Dieser Standort ist meines Erachtens nach aus einem Dornröschenschlaf erwacht und wächst. Ich finde, Wien verwächst und vernetzt sich mittlerweile schon sehr gut.“ Trotz mehr oder weniger erfreulicher „Ausreißer“. Der Raiffeisen evolution-Manager ist jedoch „gespannt, ob die Zeitpläne beim Nordbahnhofareal gehalten werden oder ob es hier zu Verschiebungen kommt. Und auch der ehemalige Standort WU Wien könnte wachgeküsst werden – die Lage ist hervorragend.“