Der Gebäudesektor ist ein zentraler Hebel für den Klimaschutz: In Österreich entfallen etwa ein Drittel des Endenergieverbrauchs und rund 10 Prozent der Treibhausgasemissionen auf Gebäude. Besonders der Bestand ist dabei entscheidend - rund zwei Drittel aller Gebäude sind älter als 50 Jahre und treten in eine Phase, in der umfassende thermische und energetische Sanierungen notwendig werden.
Gerade in urbanen Räumen mit großvolumigem Wohnbau stellen sich komplexe Fragen: Wo findet man Platz für erneuerbare Wärmequellen wie Erdsondenfelder oder große Wärmespeicher? Wie lassen sich effiziente Niedertemperatursysteme in bestehende Leitungsnetze integrieren – und das bei laufendem Betrieb mit tausenden Bewohner*innen? Hier setzt das Forschungs- und Demonstrationsprojekt Sani60ies an, das vom Institut für Verfahrens- und Energietechnik der BOKU University wissenschaftlich begleitet wird.
„Trotz dieser Herausforderungen entstehen derzeit wegweisende Projekte, die zeigen, dass auch Wohnanlagen großen Maßstabs klimafit gemacht werden können – durch die Kombination aus Gebäudesanierung, innovativen Wärmepumpensystemen und sozialwissenschaftlicher Begleitung“, erklärt BOKU-Forscherin Magdalena Wolf.
Wärmepumpen brauchen Niedertemperatur
Um den Gebäudebestand zu dekarbonisieren, braucht es Alternativen zu fossilen Heizsystemen. Neben der Fernwärme gelten Wärmepumpen als wichtigste Technologie der Zukunft. Ihr effizienter Betrieb erfordert jedoch Niedertemperatursysteme, wie Fußboden- oder Wandheizungen. Diese arbeiten mit niedrigen Vorlauftemperaturen und passen ideal zur Funktionsweise von Wärmepumpen. Die nachträgliche Installation solcher Systeme ist jedoch aufwändig: Sie erfordert bauliche Eingriffe in den Wohnungen und bringt für die Bewohner*innen erhebliche Belastungen mit sich.
Das Konzept der Fassadenaktivierung
Ziel ist es daher, ein Niedertemperatursystem mit minimalinvasiven Maßnahmen nachzurüsten. Der innovative Ansatz: die thermische Aktivierung der Gebäudehülle. Dazu werden Heizungsrohre direkt in die Außenwand eingelassen, mit Mörtel verspachtelt und anschließend mit einem Wärmedämmverbundsystem überdeckt. Die Rohre temperieren die Fassade, reduzieren Wärmeverluste und unterstützen die bestehende Heizanlage ohne Eingriffe in die Wohnungen. Nach außen erscheint die Fassade wie eine herkömmliche thermische Sanierung, im Inneren wirkt sie jedoch als großflächiges Niedertemperatursystem.
Die Vorteile auf einen Blick
Pilotprojekte in Wien
Das Demonstrationsprojekt Sani60ies wird von der BOKU University in Kooperation mit dem Institute of Building Research & Innovation ZT-GmbH als Konsortialführung, VASKO+Partner INGENIEURE als Planungspartner und der Sozialbau AG als gemeinnützige Wohnungsaktiengesellschaft und Gebäudeeigentümerin umgesetzt.
Aktuell werden drei Demonstrationsobjekte realisiert:
Damit deckt das Projekt unterschiedliche Bautypen der 1950er- bis 1970er-Jahre ab, die exemplarisch für Teile des österreichischen Gebäudebestands stehen.
Monitoring und Optimierung
Um die Effizienz des installierten Systems zu überprüfen, wurden in allen Objekten umfassende Monitoringsysteme installiert. Neben den Vor- und Rücklauftemperaturen des Heizsystems wird auch die Temperatur der einzelnen Fassadenheizkreise sowie die Kerntemperatur der Fassade aufgezeichnet. Zur Erhebung der Wärmeströme wurden Wärmemengenzähler installiert. Die Daten ermöglichen eine detaillierte Energiebilanz und unterstützen die Optimierung des Betriebs.
Erste Ergebnisse zur sommerlichen Entwärmung
Im Entwärmungsbetrieb lag die Temperatur in der Fassade um rund 2 Grad unterhalb der Raumtemperatur. Dadurch floss Wärme aus den Innenräumen in die Wand und die Raumtemperatur sank spürbar. Um den Effekt quantifizieren zu können, wurden Messdaten mit und ohne aktiven Kühlbetrieb unter vergleichbaren klimatischen Bedingungen – etwa Außentemperatur und Sonneneinstrahlung – analysiert. Das Ergebnis: Mit aktivierter Entwärmung war die Raumtemperatur im Schnitt um etwa 2 Grad niedriger als im Vergleichszeitraum ohne Kühlbetrieb. Deutlich wurde auch, dass richtiges Nutzer*innenverhalten – wie gezieltes Nachlüften oder Verschattung während des Tages – das Innenraumklima stark beeinflusst.
Forschung, Praxis, Zukunft
Sani60ies verbindet angewandte Forschung mit konkreter Umsetzung. „Für die Gebäudetechnik liefert das Projekt wichtige Erkenntnisse über die langfristige Leistungsfähigkeit von Fassadenheizungen. Für die Baupraxis entsteht ein Sanierungsansatz, der sich mit vertretbarem Aufwand in vielen Gebäuden umsetzen lässt. Die Idee hat zudem über Wien hinaus Strahlkraft: In ganz Europa stehen Millionen Gebäude der Nachkriegszeit vor der Sanierung. Die thermische Fassadenaktivierung könnte zum Schlüssel werden, um Wärmepumpen im Bestand flächendeckend einzusetzen – effizient, bewohner*innenfreundlich und klimawirksam“, betont Magdalena Wolf abschließend.
Fotos:
https://bokubox.boku.ac.at/#363e971f300e8a6147c26d11c6e6f1dd©Magdalena Wolf / Die Verwendung der Fotos ist ausschließlich im Zusammenhang mit der Berichterstattung über das Projekt Sani60ies gestattet.Abbildung 1: Anbringung der Heizungsrohre in der Fassade in der Eichendorffgasse.Abbildung 2: Detailansicht der befestigten Kunststoffrohre in der Wand, die nachfolgend mit Mörtel verputzt und mit einem Wärmedämmverbundsystem überdeckt werden.Abbildung 3: Frontansicht des Gebäudes nach Fertigstellung der Arbeiten an der Fassade in der Eichendorffgasse. (Copyright: Magdalena Wolf)Weitere